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AutorenbildChristian Nübling

Wenn die Kraft einen verlässt

18.08.2022 fünfundvierzigster Blog Eintrag – Uhrzeit MESZ 12:45 Uhr


Hallo zusammen,


es ist nun soweit nach 622 Tagen oder 89 Wochen (4.12.2020 – 17.08.2022) beende ich mit meiner 38. zytostatischen Chemotherapie meine Erstlinientherapie. Ich bin austherapiert mit Gemcitabin, Cisplatin, Oxaliplatin und körperlich am Limit angelangt, ausgequetscht, vollgepumpt mit giftiger Chemie, ausgemergelt und schwach. Der geprüfte Standardverlauf sieht für maximal 8 Zyklen bzw. 24 Wochen diese palliative Erstlinientherapie vor. Ich habe dieses Zeitfenster bei weitem übertroffen. Mein persönlicher Weltrekord! Die inakzeptable Toxizität der Therapie hat sich bei mir erst mit der letzten Chemo am 17.08. eingestellt. Onkologe und Gesundheits- und Krankenpflegerinnen sind sprachlos, erstaunt über meine körperlichen und psychischen Ressourcen.



Aber alles hat irgendwann mal sein Ende. Die Nebenwirkungen belasten zusehends meinen Alltag, Schlafstörungen, Sehstörungen, Schleimhautblutungen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Leistungsminderung, Geschmacksstörungen, Übelkeit, Verstopfung, Entzündung Speiseröhre und Mundhöhle, Nierenschädigung Grad 1, Haarausfall, Hautveränderungen, Nagelveränderungen, Gewebsnekrose an den Füßen, Taubheit Füße und Finger, akute Polyneuropathie, Thrombose, Lähmung von Muskelnerven, Wassereinlagerungen, Konzentrationsschwächen, Kurzzeitgedächtnisverlust, motorische Störungen, Gleichgewichtsstörungen, Fatigue … die Liste ließe sich fortschreiben. Für gesunde Menschen nur schwer verständlich unter welchen enormen Belastungen palliative Krebsler versuchen ihr Leben aufrecht zu erhalten. Der Rückzug in das eigene Schneckenhaus keine Seltenheit, der Lebensmittelpunkt verschiebt sich von Arbeit zu Krankheit.


„Es ist nicht von Bedeutung wie langsam du gehst, solange Du nicht stehen bleibst.“

Konfuzius (551-479 v. Chr.)


Wie geht es weiter? Was vergangen ist, ist nicht mehr, und was sein wird, ist noch nicht. Alles was wirklich ist, ist jetzt. So verschwinden die 622 erlebten Tage der Erstlinientherapie in meinen Geist. Das erlebte Leid und Glück ist verhaftet in meiner Erinnerung, Fotos halten einzelne verschwommene Momente fest, das Kommende nur in meiner Erwartung und Hoffnung. Eine Wiederholung wünsche ich mir nicht. Anstelle der Ungewissheit, Angst, Verzagtheit und Resignation setze ich mich mit meinem Leben auseinander, wage Neues auch auf die Gefahr des Scheiterns in Kauf zu nehmen.


Nach dem kurzfristig angesetzten Staging im CT, Arztgespräch, Neubeantragung Kostenübernahme Krankenkasse und einer Therapiepause wird die Zweitlinientherapie im September starten. Eine Kombinationstherapie bestehend aus 5-FU mit Irinotecan soll meinen Allgemeinzustand stabilisieren und mein Leben verlängern, nachdem Analysen der genetischen Alterationen keine Angriffsfläche für biomolekulare Therapien ergeben. Der erfolgreiche Einsatz von Immuncheckpoint-Inhibitoren kann nach derzeitigem Kenntnisstand ebenfalls ausgeschlossen werden. Mein Adenokarzinom erweist sich als besonders widerstandsfähig. Oder im Fachjargon: ein fortgeschrittener solider Tumor mit einem DNA-Reparaturdefizit.



Stillstand verbessert meine körperliche Lage nicht, die Hinterfragung meines Lebensmodells eröffnet Chancen, ein einfach so weiter machen tötet meinen Geist und Seele und beraubt dem Körper die Fähigkeit gegen meinen Krebs Abwehrmechanismen aufzubauen. Liebe Leser, wenn wir alles andere in unserem Umfeld als wichtiger erachten, als uns selbst, dann beginnt der Körper zu rebellieren. Entdecken Sie Ihre Eigentlichkeit und sorgen Sie sich um Ihr eigenes Dasein.


Vielleicht erkennen Sie jetzt, warum Sie nicht Ihr Leben leben, dass Sie sich so ersehnen und wünschen, Ihre Endlichkeit ein Aufschieben nicht duldet und Ihr Körper permanent Signale aussendet den Stillstand zu beenden. Bluthochdruck, erhöhter Blutzucker, Herz-Rhythmusstörungen, Essattacken, Konsumrausch, Arbeitsstress, Burn-Out, Depression, schlechte Laune sind nur Stellvertreter eines heraufziehenden Orkans an dessen Ende nicht unerwartet der Tod seine Flügel ausstreckt.


„Luft allein jedoch nährt nicht, und was uns geistig nährt, uns Sinn und Halt gibt, kommt nicht aus der Vernunft. Es kommt aus dem geistigen Boden, auf dem wir stehen und in dem wir unsere Wurzeln haben.“ (Anton Hügli, NZZ) Wer seine Wurzeln nicht kennt, verliert den Halt und die Orientierung, kann sich nicht abgrenzen und geht in der Masse des Mainstreams unter. Das Leben ist voller Unwägbarkeiten und Hindernissen, die wir meistens verdrängen und schnell vergessen. Wir leben gerne so, als wäre ein Lebensalter von 100 Jahren möglich. Leider bleibt dies den wenigsten Menschen vergönnt. Für chronische Erkrankte gilt der Leitspruch: „Das Beste erhoffen - und sich auf das Schlimmste vorbereiten.“


Verschwenden Sie nicht Ihre kostbare Zeit und Ihre körperlichen sowie emotionalen Energien mit sinnlosen Recherchen, permanenten Beschäftigung mit der Krankheit, möglichem Verlauf und zweifelhaften Therapien die ihrem Körper mehr Schaden zufügen als nutzen.


Achten Sie darauf, dass die Ausgewogenheit nicht verloren geht, Stichwort: Überbehandlung. Ich sage es direkt, eine Überbehandlung bringt keinen Nutzen. Im Gegenteil, sie birgt oft ein hohes Risiko, dass Nebenwirkungen Ihre Lebensqualität dauerhaft verschlechtern oder Ihre Lebenszeit sogar signifikant verkürzen.


Lassen Sie es nicht soweit kommen, wie im nachfolgenden Zitat eines deutschen Philosophen:


„Die Menschen werden nur scheinbar von vorne gezogen, eigentlich aber von hinten geschoben: nicht das Leben lockt sie an, sondern die Noth drängt sie vorwärts.“

Arthur Schopenhauer (1788-1860)


An alle Krebsler: „never give up“!


Euer

Christian

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