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AutorenbildChristian Nübling

Leben mit und nach Krebs - anders, aber nicht weniger lebenswert

05.12.2021 siebenundzwanzigster Blog Eintrag – Uhrzeit MEWZ 8:42 Uhr


Hallo zusammen,


lebenswert, es wert sein, gelebt zu werden, setzt hohe Maßstäbe an das eigene Leben. Was ist der „richtige, wahre“ Maßstab? Wann sind ein Leben und die Kunst des Lebens lebenswert? Ist ein Vergleich überhaupt möglich? Wer legt die Kategorien und Ordnungsraster fest? Bedeutet chronische Krankheit ein nicht lebenswertes Leben führen zu müssen? Fragen über Fragen, die Antworten subjektiv geprägt, eine Rückbesinnung auf die Welt des Sichtbaren verborgen, geheimnisvoll und tückisch im Detail. Hinter jeder Ecke lauern ein Vorurteil und ein blinder Fleck fehlenden Wissens. Existieren ist ein anderer Begriff, der lebenswert auf eine höhere Werte-Stufe setzt. Existieren kennzeichnet Dinge ohne nähere Bestimmung: vorhanden sein, da sein, bestehen. Ich existiere und ich lebe: beides? oder nur in Fragmenten?


Vielleicht hilft uns ein Philosoph wie Arthur Schopenhauer (1788-1860) weiter:


„Der Mensch tut allezeit nur, was er will, und tut es doch notwendig. Das liegt aber daran, dass er schon ist, was er will: Denn aus dem, was er ist, folgt notwendig alles, was er jedesmal tut.“


(Preisschrift über die Freiheit des Willens, Kap. 5, in: Arthur Hübscher (Hrsg.), Werke in 10 Bänden (Zürcher Ausgabe), Zürich 1977, Bd. 6, S. 138f.)


Zuerst einmal existiere ich und bin frei im Leben. Meine sichtbaren Handlungen schließen auf meinen Wertekodex (Ethik und Moral) unabhängig ob ich gesund oder chronisch krank bin. Und was lehren uns die Weltreligionen vom tiefsten Dschungel bis zu den höchsten Gipfeln: ein Menschenleben kann durch nichts aufgewogen werden. Ich habe eine göttliche schöpferische Verpflichtung nicht nur zu existieren (Körper) sondern zu leben (Geist und Seele) unabhängig von meinem augenblicklichen körperlichen Zustand.


„Des Menschen Ethos freilich liegt meist im Verborgenen. Wiewohl als Hintergrund des Bewusstseins allgegenwärtig, braucht es einen Anlass, um offensichtlich zu sein. Je zwingender ein Anlass es erfordert, desto bestimmter tritt der Dämon auf die Bühne.“ (Eugen-Maria Schulak) In der Krise erscheint die geheimnisvolle Fratze, die Wahrheit der anerzogenen und gelernten Tugend. So zeigen sich in der Liebe, im Krieg, im Sterben und auch beim Diskurs sich des Menschen Eigenart am eindrucksvollsten. Es sind genau diese Eigenarten, das eigene Werteverständnis, der Umgang mit Anderen (Nächstenliebe), die ein Leben lebenswert machen. Die Spuren der Liebe bleiben viel länger bestehen als die erworbenen Titel, Orden und Kompetenzen einer beruflichen Karriere oder das Sammeln von happy Moments auf einer Bucket Liste. Welche Spur verfolgen Sie?


Guy de Maupassant (1850-1893)


Ich glaube das eint uns Krebsler: wir suchen und schätzen die warme vertrauensvolle wertschätzende offene Begegnung in der Familie, Verwandtschaft, bei Freunden, Arbeitskollegen, Selbsthilfegruppen, Online Netzwerken, Ambulanzen, Krankenhäuser, Reha Institute, Hospizen und am Sterbebett.


Jeder Mensch hat so seine Sicht auf das Leben und die Dinge. Sie beurteilen die Welt danach, wie sie selbst sind – aus ihren Erfahrungen und Erwartungen Dritter heraus, geprägt vom unaufhörlichen Medienkonsum und der landläufigen Meinung einer sich abgrenzenden Mehrheitsgesellschaft. Wenn sie Dich kritisieren, die Nase rümpfen, geizige Blicke erheben, mit Schubladendenken glänzen, Fragen ausweichen, Dir vorschreiben wollen wie das Leben zu führen ist, oder keinen Kontakt mehr pflegen, weil Du Krebs oder eine andere chronische Krankheit hast, hat das mit Dir persönlich meistens gar nichts zu tun. Genau genommen, sagt es mehr über sie selbst aus als über Dich. Vielleicht sind ihnen Deine Ansichten und Deine Lebensphilosophie einfach nur unbequem, weil sie Ihren Lebensstil und ihr Verhalten auf keinen Fall kritisch in Frage stellen möchten.


Um Ihren Werten auf die Spur zu kommen, können Sie sich die folgenden Fragen stellen:


  • Was ist Ihnen in ihrem Leben wirklich wichtig?

  • Was ist Ihr Leitprinzip in Ihrem Leben?

  • Wofür stehen Sie?

  • Welcher roter Faden zieht sich durch Ihr bisheriges Leben?

  • Was würden Sie wirklich vermissen, wenn Sie es nicht mehr hätten? (Und welcher Wert steckt dahinter?)

  • Wofür kämpfen Sie? (Und welchen Wert haben Sie dabei verteidigt?)

  • Wofür brennen Sie?

Scito te ipsum. Werde, der Sie sind. Ein Leben mit Ihren Werten, eine authentische Lebensweise, Nächstenliebe und aufrichtigen Begegnungen mit Menschen macht das Leben lebenswert. Ihr körperlicher Zustand möge sich eventuell zum Schlechten geändert haben, aber nicht ihr Wesen. Sie sind das Produkt Ihrer Aktivitäten, Kristallisationen Ihres Denkens, Fühlens und Handelns.


Erkenne Dich selbst bedeutet nicht:

Beobachte Dich.

Beobachte

Dich ist das Wort der Schlange.

Es bedeutet:

Mache Dich zum Herrn Deiner Handlungen.


Nun bist Du es aber schon,

bist Herr Deiner Handlungen.

Das Wort bedeutet also: Verkenne Dich!

Zerstöre Dich!

Also etwas Böses

und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt,

hört man auch sein Gutes, welches lautet:

"um Dich zu dem zu machen, der Du bist."

Franz Kafka (1883-1924)



An alle Krebsler: „never give up“!


Euer

Christian

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