05.11.2021 dreiundzwanzigster Blog Eintrag – Uhrzeit MEWZ 11:04 Uhr
Hallo zusammen,
unsere Stimmung ist so wechselhaft und unbeständig wie das Wetter. Hat es gestern noch geregnet und ziehen nasskalte Wolken durch das Tal, zeigen sich heute vielleicht schon wieder die ersten Sonnenstrahlen. Nichts ist konstant. Der regelmäßige Wechsel der Umweltbedingungen gehört zur Normalität, seit tausenden von Jahren. Übrigens gilt diese Zyklizität auch z.B. in der Volks- und Betriebswirtwirtschaft, Physik und Gesundheit (z.B. Hormonschwankungen) und vielen anderen Systemen. Die Gemütslage von Menschen mit einer Krebserkrankung gleicht jedoch Naturgewalten: Mal lässt eine eisige Kälte in Form der Krebstherapie und den Nebenwirkungen alles Leben für Tage, Wochen erstarren - dann scheint die Welt in Ordnung zu sein, voller Glück, Liebe und Hoffnung (z.B. Remissionsprozess).
Krebskranke, wie auch chronisch erkrankte Menschen, wissen um beide Seiten des Lebens – sie wissen um den Rhythmus des Lebens, um Höhen und Tiefen, dunkle und helle Stunden, und darum, dass beides seinen Ort und seine Zeit hat. Abseits des Duracell-Häschen Alltags erlebe ich den Rhythmus des Lebens mit den guten und schlechten Momenten mit einer gewissen Gelassenheit. Ich bin ein Schüler der Gelassenheit, zum Meister sind noch viele Übungen notwendig. Entschleunigung ein Zauberwort für Genesung. Meine Übungen gelten den Lärm und die Unruhe aus der Informationsüberfülle, des Infotainments (online vernetzte TV, Kameras, mobile Geräte), täglichen Gedröhne von subjektiven Meinungen der Influencer und solche die es gerne wären, Werbetrommeln, Geschrei der Unzufriedenen und dem Gedränge unserer Zeit zu entfliehen. Gelingt es Ihnen zur Gelassenheit zu finden?
Mein Leben kennt die Tränen, meine aktuellen Narben auf der Bauchdecke und unterhalb der rechten Schulterplatte erinnern an die Schmerzen, mein Lebensmut weiss um die Todesangst als Palliativpatient, meine sorgenfreien Träume erzählen von dem, was nicht ist aber sein kann. Das Gestern und das Morgen, das Düstere und das Leuchtende, das Leichte und das Schwere im Hier und Jetzt leben, lässt manche innere Ruhe fehlen, zu viele Stressfaktoren wirken im Alltag auf mich ein. Meditation hilft mir und meiner Genesung. Was hilft Ihnen?
An die Stelle des Autopiloten, von Routine und Gewohnheiten, muss nun Bewusstheit, Aufmerksamkeit oder gar Achtsamkeit treten. C.G. Jung (1875-1961) ergänzt in Traum und Traumdeutung „da das Bewußtsein allen möglichen äußeren Anziehungen und Ablenkungen ausgesetzt ist, läßt es sich leicht dazu verleiten, Wege zu gehen, die seiner Individualität fremd und nicht gemäß sind.“
Sich dann entschlossen der eigenen Individualität (mit oder ohne Krebs) zuzuwenden, das Neuland einer chronischen Erkrankung bejahend zu betreten, ermöglicht einen Neuanfang, der vielleicht vor der Diagnose undenkbar erschien, doch jetzt genau der Richtige ist. Vielleicht auch die einzige Option aus der Krise. Allerdings brauchen gravierende Veränderungen, der Reset oder Neustart, immer Zeit und Geduld. Ich übe mich täglich im Lösen von dem, was war. Ich durchlaufe eine Phase des Übergangs, die von ungewohntem Terrain (Ungewolltem!) und manchmal auch Sorgen und Nöten geprägt ist. Meine Sorgen sind manchmal ganz schön hartnäckig - sie können mir das Gefühl geben, mich sofort damit befassen zu müssen. Geht es Ihnen auch so?
Das Erlernen und Üben von Achtsamkeit helft mir auf dem Weg die Sorgen loszulassen und mich in den gegenwärtigen Raum zurückzubringen. Die sanfte Bewegung des Atems oder die Geräusche, die ich um mich herum höre, wahrzunehmen (z.B. Entspannungsmusik), befreit mich von den Sorgen.
Wie gut kenne ich meine Bedürfnisse und wie sorge ich dafür, dass diese erfüllt werden können? Es geht nicht um die persönlichen Wellnesserfahrungen und Wünsche unserer freizeitorientierten körperbetonten Gesellschaft, sondern um die Lebensfragen (Beruf, Beziehung, soziale Interaktion, Spiritualität/ Religion). In meiner Wirklichkeit sind fast alle Menschen krank, aus dem Gleichgewicht geraten und pflegen eine Fassade, den Anschein von Zufriedenheit, Glück und Harmonie.
Ein schönes Beispiel liefert die standardmäßige „Wie geht’s dir?“ Frage. Oftmals nur eine unmotivierte Floskel ohne Ernsthaftigkeit sich tatsächlich nach dem Wohlbefinden des Gegenübers zu erkunden. Die Standard-Antwort lautet dann ebenso trügerisch wie nichtssagend „gut!“ eine automatische Abwehrhaltung um den Blick in das Innere der Seele zu verbergen. Sagt man etwas anderes ist der Gegenüber schockiert und lenkt das Gespräch in eine andere Richtung. Die Fassade pflegen kostet viel Zeit, Energie und Geld. Wie fühlen Sie sich gerade?
Mein Blick wurde in den letzten Monaten für das Schöne geschärft, aber auch das Hässliche zeigt sich in grauenvolleren Fratzen. Zeit ist relativ. Und meine Zeit ist begrenzt (war es von Anbeginn an). Meine ungelösten Fragen oder Wünsche lassen sich nicht mehr auf eine viel zu unsicher erscheinende Zukunft (Rente, Ruhestand) vertrösten. Diese Erkenntnis ist ein Fluch und ein Segen. Verwirrend, das Leben mit dem Krebs ist jetzt besser und schlechter. Beides!
„Auch aus Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
An alle Krebskranken: „never give up“!
Euer
Christian
Sehr treffende Worte und so schön formuliert. Ich selbst mache MBSR. Und Gelassenheit angesichts der Unruhe ist auch ein großes Thema für mich. Seitdem ich krank bin, stehe ich dem Leben in der Großstadt sehr empfindsam gegenüber.