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AutorenbildChristian Nübling

Die Zweitmeinung

29.05.2022 einundvierzigster Blog Eintrag – Uhrzeit MESZ 11:37 Uhr


Hallo zusammen,


vor Kurzem erhielt ich von meiner Krankenkasse ein Schreiben mit der Überschrift „Ihr Recht auf eine kostenlose Zweitmeinung“. In dem Schreiben werde ich informiert, dass Versicherte einen gesetzlichen Anspruch (§ 27 b SGB V) auf eine kostenlose ärztliche Zweitmeinung für ausgewählte Eingriffe haben, u.a. Gebärmutterentfernung, Mandeloperation, Implantation eines künstlichen Kniegelenkes, Eingriffe an der Wirbelsäule. Krebs wird in dem Schreiben nicht genannt! Ein Zufall? Wie verhält es sich bei Krebserkrankungen?


Und was ist überhaupt eine Zweitmeinung? unter einer Zweitmeinung versteht man die zweite, unabhängige Beurteilung der Erkrankungssituation und der Therapieempfehlung durch einen anderen Arzt beziehungsweise durch ein weiteres Ärzteteam. Zielsetzung des Gesetzgebers ist es medizinisch nicht notwendige Indikationsstellungen bei planbaren Eingriffen und die Durchführung von medizinisch nicht gebotenen planbaren Eingriffen zu vermeiden. Dabei hilft die Zweitmeinung idealerweise in der Fragestellung welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es, und welche ist für mich die richtige?


Oft ist die Frage nach der richtigen Behandlung gar nicht so einfach zu beantworten. Die Standard-Therapievorgehensweisen aus den onkologischen Leitlinien sind bei der Vielfalt der Krankheitsformen und individuellen körperlichen Verfassungen nicht selten nur eine Orientierungshilfe, die entsprechend angepasst werden müssen. Häufig kommen mehrere Therapieoptionen infrage, und sie sind so vielfältig, dass ein Arzt allein kaum den ganzheitlichen Überblick hat. Deshalb werden die Spezialisten der unterschiedlichen Fachrichtungen aktiv eingebunden, darunter Chirurgen, Onkologen, Ärzte für Innere Medizin, Radiologen, Strahlentherapeuten, aber auch der Pathologe, der das Tumorgewebe untersucht hat. Es entsteht eine Expertenkommission, die über den Fall eines Krebspatienten beraten, im Fachjargon: interdisziplinäre Tumorkonferenz. „In der Onkologie entscheidet niemand mehr allein – zehn Augen sehen mehr als zwei“.


Je komplexer der Fall erscheint, oder je seltener die Tumorerkrankung (Inzidenz) ist, erscheint für mich die Notwendigkeit, eine ärztlichen Zweitmeinung einzuholen. Im Internet können sich Patienten über das Zweitmeinungsportal http://www.krebszweitmeinung.de telefonisch oder über ein Kontaktformular melden. Nach Datenfreigabeerklärung werden die medizinischen Daten in einer elektronischen Patientenakte gespeichert und an die Deutschen Krebsgesellschaft-zertifizierte Zentren weitergegeben.



Mit ihrer Zweitmeinungsempfehlung können Patienten ihren aktuell behandelnden Arzt kontaktieren, um das weitere Vorgehen mit ihm zu besprechen. Die Kosten für diesen Service werden derzeit von rund 30 Krankenkassen übernommen.


Aber was passiert, wenn Erst- und Zweitmeinung sich widersprechen, gänzlich unterschiedliche Therapie- und Behandlungsmethoden vorgeschlagen werden? Wie bei mir aktuell geschehen!



Liebe Leser, ich berichte: Bekanntes cholangiozelluläres Karzinom linker Leberlappen, im Randbereich multiple, rundliche Lebermetastasen, ebenso linker Leberlappen in Richtung des Ligamentum falciforme hepatis. Unspezifische Parenchymzysten rechter Leberlappen. Lymphknotenmetastasen im Bereich des Leberhilus. Nach weiterem Regress der Lebermetastasierung im Sinne einer partiellen Remission (34 Chemotherapien erfolgt), Pfortaderthrombose nicht mehr darstellbar, empfiehlt das

  • Tumorboard Krankenhaus 1: prinzipiell Resektion oder Ablativesverfahren als individuelles Therapiekonzepte bei sehr jungem und 4. Patienten vorstellbar, falls laparoskopisch keine Peritonealkarzinose sichtbar ist, Aussetzung Systemtherapie

  • Tumorboard Krankenhaus 2: technische Irresektabilität der linksseitigen Tumormanifestation bei Ummauerung der Pfortader und Gallengangsbifurkation. Vorstellung interventionelle Radiologie zur Evaluation TACE, alternativ Fortsetzung Systemtherapie.

Ich bin verwirrt, fühle mich nicht besser aufgeklärt, sondern stehe vor einer schwierigen, lebensbestimmenden Entscheidung. Generell suggerieren „Zweitmeinungen“ Sicherheit oder sind zielgerichtet („Vermeidung unnötiger Operationen“), dies ist bei mir nicht der Fall. Nach Rücksprache mit meinem Onkologen (Shared Decision-Making), dem Abwägen aller Vor- und Nachteile, werde ich als Nichtmediziner meinem Gefühl folgen („innere Stimme“) und eine Entscheidung treffen. Kriterien werden dabei sein: meine Verbesserung des Gesundheitszustandes, die Verlängerung der Lebensdauer, die Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine weitere Verbesserung der Lebensqualität. Eine klassische Risiko-Nutzenbewertung, bei der mathematische heuristische Modelle nicht weiterhelfen. Vielleicht hilft mir die Zeitreise-Methode: Welche Auswirkungen hat meine Behandlungswahl in 10 Tagen? Welche Auswirkungen hat sie in 10 Monaten? Welche Auswirkungen hat sie in 10 Jahren?

„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)


Jede Entscheidung hat in der Regel Vor- und Nachteile und blinde Flecken. Diese können in Risiken, Heilungschancen aber auch in der zeitlichen Perspektive (zeitlicher Aufwand, Behandlungsdauer, Lebensdauer, usw.) liegen. Nur Sie können letztlich diese Vor- und Nachteile abwägen und bei Eliminierung von Stress- und Störfaktoren (Vermutungen, Zeitdruck, Ängste) dementsprechend entscheiden (Selbstbestimmungsrecht). Das kann Ihnen prinzipiell niemand abnehmen, auch kein Arzt! Vergessen Sie nicht, eine präzise Vorhersage der Zukunft ist nicht leistbar.


„The best way to predict the future is to create it.“

Abraham Lincoln (1809-1865)


Ich wünsche mir als Standard ein Recht auf Zweitmeinungen bei allen schwerwiegenden, potenziell lebensverändernden Erkrankungen wie Krebs, Herzerkrankungen und neurologischen Problemen.


An alle Krebsler: „never give up“!


Euer

Christian

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